Interview zur Arbeitsmarktsituation in Thüringen mit der ARD

"Unsere vietnamesischen Azubis haben ein klares Ziel vor Augen"

Zur Arbeitsmarktsituation in Deutschland und speziell in Thüringen gab der Prokurist und Personalverantwortliche unseres Unternehmens Alexander Voigt der ARD für einen Beitrag in der Sendung Panorama am 10. Januar 2019 ein Interview.

Der Beitrag wurde am 14. Februar 2019 um 21:45 Uhr in der ARD ausgestrahlt. 

Katharina Schiele im Gespräch mit Alexander Voigt

v. l. n. r.: Alexander Voigt, Kieu Van Thai, Dao Ha Nam Anh, Phuong Hoa Do, Thi Tuyet Nguyen, Phung Trang Nhung Doan


Katharina Schiele: Herr Voigt, bitte stellen Sie sich kurz vor – seit wann sind Sie im Unternehmen und wie war Ihr Werdegang hier.


Alexander Voigt:  Mein Name ist Alexander Voigt, ich bin als Prokurist tätig und hier hauptsächlich zuständig für Personal- und Vertragswesen.

Und gerade im Bereich Personal haben wir in den letzten Jahren mit zunehmenden Problemen zu kämpfen. Haben sich vor ca. 6 Jahren auf eine Stellenausschreibung noch 10 potentielle Arbeitnehmer bzw. Auszubildende beworben, verringerte sich diese Zahl von Jahr zu Jahr. Und wir in Südthüringen sind hiervon besonders stark betroffen.


Schiele: Sie sprechen jetzt nicht nur vom Fachkräftemangel, sondern vom Arbeitskräftemangel allgemein. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?


Voigt:  Ja, es trifft zu, dass wir hier in Südthüringen große Probleme bei der Besetzung ausgeschriebener Stellen haben. Bezüglich der Gründe müssen wir bis zur Wende zurückgehen. Nach der Wende wurden viele größere Unternehmen in der Region liquidiert. Die frei werdenden Arbeitskräfte fanden regional oftmals keine angemessene Beschäftigung, so dass zu diesem Zeitpunkt und in den nachfolgenden Jahren eine sehr starke Fluktuation zu verzeichnen war. Viele zogen aus Thüringen weg Richtung alte Bundesländer. Die Gründe lagen zum einen in der dort vorhandenen Arbeit, zum anderen in dem dort deutlich höheren Lohnniveau.

Gleichzeitig war ein drastischer Geburtenrückgang zu verzeichnen, mit dessen Auswirkungen wir jetzt zu kämpfen haben. In Thüringen gibt es meines Wissens nach 25.000 unbesetzte Stellen. Es ist so, dass permanent mehr Arbeitnehmer in Rente gehen als nachrücken. Und das zieht sich durch alle Bildungsebenen – vom einfachen Arbeiter bis zur Führungskraft.


Schiele: Warum ist es so schwer, deutsche Bewerber zu finden?


Voigt:  Die Probleme sind vielschichtig. Im Landkreis Schmalkalden-Meiningen haben wir derzeit 2.500 Personen, die noch arbeitslos sind, in Meiningen sind es ca. 1.000, die noch für den Arbeitsmarkt verfügbar wären.

Unser Unternehmen ist im Gewerbegebiet, also außerhalb des Zentrums der Stadt Meiningen angesiedelt. Um zur Arbeit zu kommen, muss man mobil sein, sprich Auto fahren können. Wer kein Auto hat, ist auf den ÖPNV angewiesen. Und genau hier liegt das Problem. Die Taktfrequenz der entsprechenden Stadtlinie ist deutlich zu niedrig. Arbeitnehmer, die im Schichtdienst tätig sind und kein Auto haben, kommen also nicht zu ihrer Arbeitsstelle. Und das ist nicht nur ein Problem unseres Unternehmens, sondern aller hier im Gewerbegebiet angesiedelten Unternehmen. Eine bessere Bedienung dieser Stadtlinie würde es uns sicher leichter machen, Arbeitskräfte zu gewinnen.


Schiele: Sie akquirieren Auszubildende aus Vietnam. Warum das?


Voigt: Ich hatte auch meine Fühler nach Osteuropa ausgestreckt. Ca. 2013 war ein Projekt mit spanischen Lehrlingen angedacht und in der Erprobungsphase. Es stellte sich aber heraus, dass die spanischen Lehrlinge mental nie so richtig hier angekommen waren – zu großes Heimweh, die Familie zu weit weg.

Osteuropäer wollen Geld verdienen. Sie haben in der Regel einen Berufsabschluss und wollen demzufolge hier Geld verdienen. Ob und inwiefern dieser Berufsabschluss mit unseren Anforderungen kompatibel ist, steht auf einem anderen Blatt, zumal die duale Ausbildung in Deutschland weltweit einzigartig ist. Wenn wir also einen Fleischer haben wollen, müssen wir ihn ausbilden.

Zu DDR-Zeiten hatte Vietnam Verbindungen in die DDR. Es wurden Lehrlinge ausgebildet, die dann in der DDR blieben, es gab viele vietnamesische Arbeitnehmer in der DDR, die auch nach der Wende blieben. Von daher besteht eine gewisse soziale Struktur, die uns bei der Akquirierung vietnamesischer Auszubildender heute hilft. Das heißt, unsere vietnamesischen Azubis haben Verwandte hier, mit denen sie Verbindung halten, die Freizeit gestalten können, so dass das Heimweh dann doch gelindert wird.


Schiele: Herr Voigt, wie viele ausländische Arbeitnehmer beschäftigen Sie im Unternehmen?


Voigt:  Wir haben 70 deutsche Arbeitnehmer, 10 slowakische und 15 rumänische.


Schiele: Wie sind Sie darauf gekommen, vietnamesische Azubis einzustellen?


Voigt: Ich bekam einen Anruf vom Projektleiter der IHK Südthüringen, ob wir 3 vietnamesische Lehrlinge einstellen würden. Da musste ich nicht lange überlegen. Wir haben uns dann um Wohnungen gekümmert und betreuen unsere ausländischen Azubis auch in der Freizeit soweit möglich, denn sie sind schließlich ziemlich weit weg der Heimat. Auch wenn sie hier Verwandte haben, ist das doch erforderlich.


Schiele: Klingt nach ziemlich viel Aufwand?


Voigt: Das ist so, nicht nur finanziell. Zum einen verdienen unsere Azubis relativ viel, zum anderen bleibt ein ordentlicher Anteil an zusätzlichen Aufgaben beim Unternehmen hängen. Aber wenn man dann sieht, dass die eigenen Bemühungen durch gute Leistungen honoriert werden, ist das eine tolle Sache. So haben unsere 2 Fleischer-Lehrlinge vergangenes Jahr mit tollen Ergebnissen abgeschlossen. Nam mit einem Durchschnitt von 1,86 – damit war er sogar Klassenbester und das als ausländischer Azubi – und Thai mit einem Durchschnitt von 1,93. Sie bemühen sich beide wirklich sehr.

Unsere beiden vietnamesischen Fleischer-Azubis sind Anfang 20, deutsche Azubis in der Regel 16/17 Jahre. Sie sind aufgrund ihres Alters in ihrer Persönlichkeit schon wesentlich gefestigter als ein 16/17jähriger Azubi und sehr zielstrebig. Und weil wir mit beiden so positive Erfahrungen gemacht haben, haben wir im Herbst vergangenen Jahres 3 vietnamesische Azubis zur Ausbildung als Verkäuferin eingestellt.


Schiele: Welche Kenntnisse und Qualifikationen müssen vietnamesische Azubis mitbringen?


Voigt: Beide Azubis wurden von einer Hochschule gecastet. Einer war im Maschinenbau tätig, der andere in der Ernährungswissenschaft. Bevor sie das Visa erhielten, mussten sie das Sprachzertifikat in Deutsch B2 ablegen. In Vietnam besuchten sie dazu einen 12-monatigen Deutschkurs. Eingangs sprach ich von 3 vietnamesischen Fleischer-Lehrlingen – einer hat das Sprachzertifikat nicht erreicht und demzufolge kein Visum erhalten.

13 bis 14 Monate vor Beginn der Ausbildung in Deutschland bewerben sich die Auszubildenden in Vietnam, dann erfolgt der 12monatige Sprachkurs – wie Sie sehen, ein recht langwieriger Prozess alles in allem.


Schiele: Wie viele Lehrlinge bilden Sie derzeit aus?


Voigt: Einen deutschen Lehrling und 5 vietnamesische Lehrlinge. Wie ich bereits sagte, ist es sehr schwer deutsche Lehrlinge zu finden, die diese Berufe erlernen möchten. Im letzten Jahr hatten wir z. B. keine einzige Bewerbung eines deutschen Lehrlings.


Schiele: Sie sagten, die Fleischer-Azubis kommen von der Hochschule. Das wäre hier nicht möglich.


Voigt: Das stimmt.


Schiele: Sie bilden die Lehrlinge aus mit ziemlich viel Aufwand – lohnt sich das für Sie?


Voigt:  Wenn wir die Azubis danach einstellen können und sie im Unternehmen arbeiten, dann ja. Aber momentan tragen wir als Unternehmen das Risiko, denn es gilt gesetzlich noch die 3+2-Regel – das heißt, 3 Jahre Ausbildung, 2 Jahre hier arbeiten. Dann läuft der Aufenthaltstitel aus und es wird individuell entschieden. Die IHK verhandelt derzeit mit der Bundesregierung, um eine Rechtssicherheit zu schaffen, damit die von uns ausgebildeten Arbeitnehmer bei uns bleiben können.


Schiele: Es werden also die bestraft, die ausbilden – so wie es von der Politik gefordert wird?


Voigt: Ja, leider ist das im Moment so. Genauso ist es mit Flüchtlingen, die arbeiten wollen. Wenn sich ein Flüchtling bei mir um Arbeit bemüht, sind hohe bürokratische Hürden zu überwinden und eine Menge Papierkram zu erledigen. Die Gesetzgebung ist sehr schwierig.


Schiele: Findet man innerhalb der EU noch Arbeitskräfte?


Voigt: Nicht so wirklich. Unsere unmittelbaren Nachbarn Polen und Tschechien haben selbst sehr niedrige Arbeitslosenquoten, das Lohnniveau ist gestiegen und nur noch sehr wenige wollen nach Deutschland. Hier im Gewerbegebiet arbeiten z.B. Bulgaren und Ukrainer.


Schiele: Sie sind seit 10 Jahren im Unternehmen und seit 4 Jahren speziell mit der Problematik Personal befasst. Ist die Arbeitskräftebeschaffung schwieriger geworden?


Voigt: Durchaus. Dieses und vergangenes Jahr hatten wir z.B. keine Resonanz auf ausgeschriebene Ausbildungsplätze. Vor Jahren kamen noch ca. 10 Bewerber auf eine ausgeschriebene Stelle. Ich persönlich habe jedoch das Gefühl, dass es in den nächsten Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung hier eine Veränderung geben wird.


Schiele: Wie schätzen Sie die Qualifikation der deutschen Bewerber um einen Ausbildungsplatz ein?


Voigt: Wie schon gesagt, ist ein 16Jähriger noch nicht so zielstrebig wie ein 20Jähriger. Unsere vietnamesischen Azubis haben ein klares Ziel vor Augen.


Schiele: Welche Rolle spielt es, dass das Fleischerhandwerk eine anstrengende Branche ist?


Voigt: Eine große. Viele wissen nicht, was alles hinter der Ausbildung steckt. Aber das ist nicht nur ein Problem unserer Branche, sondern das Arbeitskräfteproblem trifft fast alle Branchen – egal ob Bank, Behörde, Industrie oder Handwerk.


Schiele: In welchen Bereichen sind die ausländischen Arbeitnehmer bei Ihnen eingesetzt?


Voigt: Gemischt. Vornehmlich in der Verpackung, d.h. verbringen der Ware in die entsprechenden Verpackungen, sowie Etikettierung und in der Füllerei.

Schiele: Zusammenfassend, wie wichtig sind ausländische Arbeitnehmer für Ihr Unternehmen?


Voigt: Ungeheuer wichtig. Ohne unsere ausländischen Arbeitnehmer könnten wir nur schwer existieren und eingehende Aufträge ausführen. Es müssten viel mehr Überstunden geleistet werden und auch Wochenendarbeit, um die Arbeit überhaupt zu schaffen. Das wissen unsere deutschen Arbeitnehmer auch. Von daher sind unsere ausländischen Arbeitnehmer geschätzt und akzeptiert. Wir können nun mal nicht auf „Halde“ produzieren, weil wir es mit Lebensmitteln mit entsprechenden Mindesthaltbarkeiten zu tun haben. Daher müssen wir zügig und flexibel auf eingehende Aufträge reagieren und sind froh, unsere ausländischen Arbeitnehmer zu haben.

Wir sind zudem froh, dass wir mit unseren 3 vietnamesischen Azubildenden zur Ausbildung als Verkäuferin Verstärkung im Filialbereich bekommen haben. Vergangenes Jahr mussten wir z. B. 2 Filialen schließen, weil wir keine Verkäuferinnen gewinnen konnten.


Schiele: Das hieße also, ohne Ihre ausländischen Azubis und Arbeitnehmer könnte keine leckere Thüringer Bratwurst produziert und verkauft werden?


Voigt: Definitiv.


Schiele: Die Gesetzeslage ist schwierig. Was müsste sich ändern?


Voigt: Eine große Hürde stellt die Beantragung der Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge dar. Hier muss man schneller agieren können. Wenn sich Flüchtlinge bei mir vorstellen, muss erst die Vorrangprüfung erfolgen. Diese dauert ca. 2-3 Monate. Das ist einfach viel zu lange. Auch brauchen wir die Unterstützung der regionalen Politik hinsichtlich des ÖPNV, sowie einen sozialen Wohnungsbau.


Schiele: Vorrangprüfung – da wird geprüft, ob es deutsche AN gibt, die diese Tätigkeit ausführen könnten?


Voigt: Ja, so ist es. Hier muss ich mal die Zusammenarbeit mit unserer Agentur für Arbeit lobend hervorheben. Sie kennt die Situation, agiert schnell und arbeitet gut mit den Unternehmen zusammen. Aber die gesetzlichen Vorgaben muss auch sie einhalten.


Schiele: Erachten Sie die Vorrangprüfung als sinnvoll?


Voigt: Aufgrund der aktuellen Arbeitskräftesituation ist sie meines Erachtens nach nicht sinnvoll, behindert sie doch die Arbeit der Unternehmen. Es ist an der Politik, die Gesetzgebung zu prüfen und der Marktsituation schnell anzupassen.


Schiele: In Thüringen findet der Parteitag der AfD statt, die mit ihrem Slogan, jeder möge in das Land zurückkehren, aus dem er komme, wirbt. Wie sehen Sie das?


Voigt: Thüringen hat 2,1 Mio Einwohner, 1,05 Mio davon arbeiten. Das bedeutet, ein Arbeitnehmer finanziert eine Person, die nicht arbeitet. Wenn die ausländischen Arbeitnehmer weggeschickt werden würden, dann brauche ich Ihnen nicht zu erklären, was das für den sozialen Zusammenhalt bedeuten würde.


Schiele: Die AfD ist in Thüringen recht stark vertreten. Spüren Sie das? Erschwert das Ihre Arbeit?


Voigt: Das konnte ich so noch nicht feststellen. Denn jeder Arbeitnehmer entscheidet sich ja für ein Unternehmen und nicht für eine Partei. Wir sind ein weltoffenes Unternehmen und das kommunizieren wir auch so.


Schiele: Die AfD stellt ebenso die Behauptung auf, Ausländer nähmen Deutschen die Arbeitsplätze weg.


Voigt: Dem ist definitiv nicht so. Ausländer, die hier arbeiten, zahlen ihre Steuern und Abgaben, zahlen also in die Sozialsysteme ein und sind dringend notwendig.


Schiele: Fällt Ihnen adhoc eine Situation für das gute Miteinander mit Ihren vietnamesischen Azubis ein?


Voigt: Ja klar. Kurz vor Weihnachten hat eine vietnamesische Auszubildende ihrer Lehrausbilderin einen 2seitigen Brief geschrieben, in dem sie sich für die gute Zusammenarbeit mit ihr bedankt hat. Wie freundlich sie mit ihr umgeht, ihr alles erklärt, dass sie sich hier richtig wohl fühlt und dass ihre Lehrausbilderin ihre 2. Mami sei.


Schiele: Es funktioniert also auch menschlich sehr gut?


Voigt: Ja, soetwas ist zauberhaft.